Die Frage, ob der Beschuldigte den Unfall tatsächlich bemerkt hat, ist häufig die entscheidende Frage im Strafprozess. Denn gerade bei geringeren, insbesondere Streifschäden, ist es alles andere als erwiesen, ob der Beschuldigte diese wahrgenommen hat.
Noch einmal: Ob er solche „hätte wahrnehmen müssen“, ist irrelevant.
Dies lässt sich i.d.R. nur mit sachverständiger Hilfe klären. Zeugen sind fast immer ungeeignet für diesen Nachweis, denn die Tatsache, dass ein am Unfallort präsenter Zeuge ein Anstoßgeräusch vernommen hat, bedeutet nicht, dass es der Beteiligte auch vernommen hat (OLG Hamm, Beschl. v. 14.08.2003 – 2 Ss 439/03, NJW 2003, 3286).
Anstoßgeräusche, die außerhalb des Fahrzeugs gehört werden, empfindet der Zeuge aufgrund des unterschiedlichen Übertragungsverhaltens des Geräuschs im Umfeld grundsätzlich als lauter als innerhalb der Fahrzeuge (Burg/ Moser, Handbuch Verkehrsunfallrekonstruktion, 2009, S. 870; Buck/Krumbholz, Sachverständigenbeweis im Verkehrs- und Strafrecht, 2. Aufl. 2013, S. 657 f.).
Es gibt drei Arten der Wahrnehmbarkeit eines leichten Kollisionsgeräuschs:
- visuelle Wahrnehmbarkeit;
- akustische Wahrnehmbarkeit sowie
- taktile Wahrnehmbarkeit (Einzelheiten bei Sitter, Straßenverkehrsrecht, Kommentierung zu § 142 StGB, Februar 2021, Teil 4/8.20).
Visuelle Wahrnehmbarkeit
Die visuelle Wahrnehmbarkeit ist ausschließlich objektiv zu bestimmen und damit die am wenigsten nachweisbare Art der Wahrnehmbarkeit. Sie liegt vor, wenn der Fahrer die direkte Kollisionsstelle, ggf. über den Außenspiegel, gesehen hat.
An dem gestoßenen Fahrzeug muss es zu einer erkennbaren Bewegung gekommen sein. Dies wird bei leichten Kollisionen dem Fahrer zumeist nicht nachgewiesen werden können.
Akustische Wahrnehmbarkeit
Die akustische Wahrnehmbarkeit liegt vor, wenn der Fahrer den Anstoß in seinem Fahrzeug hören konnte.
Der Mensch unterliegt dem sogenannten „Richtungshören“, das die Fähigkeit bezeichnet, hörend zu lokalisieren, woher ein bestimmtes Geräusch kommt, weshalb dieses Kriterium leichter nachzuweisen ist, solange der Schallpegel ausreichend hoch ist.
Allerdings hängt es von vielen Unwägbarkeiten ab, etwa
- von Geräuschen im Fahrzeuginnern durch Motor, Gebläse, Musik, Verkehr, Unterhaltung der Fahrgäste;
- aber auch von Umgebungsgeräuschen durch Reifen, Fahrbahnunebenheiten, Fahrwerk,
- davon, welche Fahrzeugteile kollidiert sind;
- davon wie ausgeprägt der „Schallschutz“ im Fahrzeug war;
- von Dauer und Art des Geräuschs;
- von der Ursache des Geräuschs und von der Alternativquelle wie Bordsteinanstoß, Bremsruck etc.
Nichtbetriebsbedingte Geräuscharten folgen weder einer zeitlichen Regelmäßigkeit noch können sie, da sie regellosen Frequenz- wie Lautstärkeschwankungen unterworfen sind, regelmäßig vom Sachverständigen nicht hinreichend bewertet werden (Buck/Krumbholz, Sachverständigenbeweis im Verkehrs- und Strafrecht, 2. Aufl. 2013, S. 638).
Taktile Wahrnehmbarkeit
Die taktile (oder kinästhetische) Wahrnehmbarkeit beschreibt das Fühlen oder Spüren der Kollision, welches über die Mechanorezeptoren in der Haut erfolgt, die Verschiebungen in den oberen Hautschichten registrieren.
Die kinästhetische Wahrnehmung erfolgt im Vestibularapparat (Gleichgewichtssinn) im Innenohr, der Beschleunigungen registrieren kann.
Durch Fühlen können stoßbedingte Schwingungen wahrgenommen werden, die dadurch entstehen, dass bei der Kollision des stoßenden Fahrzeugs dessen Insassen Geschwindigkeitsänderungen erfahren, die an Rücken, Gesäß, Händen und Füßen gemerkt (gefühlt) werden (OLG Köln, Beschl. v. 22.10.1991 – Ss 487/91-255, NZV 1992, 37).
Es gibt allerdings keinen Erfahrungssatz, wonach die Fahrzeuginsassen die Berührung zweier Fahrzeuge immer „fühlen“ müssten (OLG Köln, a.a.O.).
Diese Rechtsprechung hat in der Praxis des Verfassers dieser Zeilen schon oft für Gesprächsbereitschaft auf Seiten der Strafrichter und Staatsanwälte gesorgt. Der Verteidiger sollte sie kennen.