Die Grundregel des § 10 StVO besagt, dass der fließende Verkehrgegenüber dem sich in ihn Einreihenden das Vorrecht hat.
Der Ein- bzw. Anfahrende hat eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen und seine Absicht rechtzeitig unter Betätigen der Fahrtrichtungsanzeige anzukündigen. Das klingt zunächst einfach, und doch kommt es auch beim Ein- und Anfahren im Straßenverkehr nicht selten zu Unfällen.
Zunächst zum Anwendungsbereich: § 10 StVO gilt auf einem öffentlichen Parkplatz sowie auf einem Privatparkplatz, bei dem die Regeln der StVO für anwendbar erklärt wurden.
Sollte dieses nicht der Fall sein, auf dem Parkplatz aber Fahrspuren und Parkbuchten durch weiße Striche markiert sein, so kommt der in § 10 StVO enthaltene Rechtsgrundsatz über den dann hier anwendbaren § 1 StVO zur Anwendung.
Der Grundsatz des Gefährdungsausschlusses bezieht sich nur auf den dem fahrenden, nicht auf den ruhenden Verkehr auf der bevorrechtigten Straße. Er gilt aber auch gegenüber dem auf einem Radweg sich bewegenden Radfahrer und gegenüber Fußgängern.
Die Begrifflichkeiten
Unter Anfahren wird das In-Bewegung-Setzen des stehenden Fahrzeugs mit dem Ziel des Wiedereinfügens in den fließenden Verkehr vom rechten oder linken Straßenrand – also von der Fahrbahn – verstanden.
Hierbei kommt es nicht auf die Verlegung der Fahrlinie nach rechts oder links an. Das Anfahren ist auch unter Beibehaltung der Fahrspur möglich (KG, Urt. v. 04.03.2004 – 17 O 328/03, VersR 2005, 847).
Auch unter Einfahren wird eine Fahrzeugbewegung verstanden, die der Eingliederung in den fließenden Verkehr dient.
Das Fahrzeug muss dabei aus einem Grundstück, Fußgängerbereich, verkehrsberuhigten Bereich oder von anderen Straßenteilen kommen oder über einen abgesenkten Bordstein einfahren.
Abgeschlossen ist der Vorgang des Ein- bzw. Anfahrens, wenn sich das einbiegende Fahrzeug voll, auch geschwindigkeitsmäßig in den fließenden Verkehr eingeordnet hat (OLG Celle, Urt. v. 27.06.2005 – 14 U 72/05, NZV 2006, 309; KG, Beschl. v. 27.11.2006 – 12 U 181/06, NZV 2007, 359).
Grundstück im Sinne des § 10 StVO ist jede nicht dem fließenden Verkehr dienende Verkehrsfläche. Unerheblich ist, ob auf dem Grundstück öffentlicher Verkehr stattfindet oder ob es sich um ein rein privates Gebiet handelt.Die Rechtsprechung hat als Grundstück i.S.d. § 10 StVO angesehen:
- ausfahren aus einem Busbahnhof, einem Tankstellenbereich,
- Einmündung einer Ladestraße in eine öffentliche Straße,
- Hofraum eines Gebäudekomplexes/Firma/Haus.
Für die rechtliche Beurteilung, ob eine Fläche ein öffentlicher Weg oder eine Grundstücksein- oder -ausfahrt ist, sind ausschließlich äußere, ohne weiteres erkennbare Merkmale entscheidend.
Nicht relevant sind Eigentumsverhältnisse oder eine verwaltungsrechtliche Widmung der Verkehrsfläche. Ein versesenkter Bordstein deutet auf eine Ausfahrt, nicht auf eine Einmündung hin (OLG Koblenz, Beschl. v. 04.04.1975 – 1 Ws (a) 199/75, VRS 49, 449).
Auf die Breite oder die Beschilderung mit einem Straßennamen und die tatsächliche Beschaffenheit kommt es nicht an (OLG Koblenz, Urt. v. 25.11.2002 – 12 U 1429/01, VRS 104, 353).Eine öffentliche Straße und keine Grundstücksausfahrt liegt dann vor, wenn ausdrücklich oder mit stillschweigender Duldung des Verfügungsberechtigten eine Verkehrsfläche allgemein erkennbar für jedermann zugelassen ist.
Da das sich der Allgemeinheit, also einem Durchschnittsfahrer bietende Bild entscheidend ist, sind die Regeln der Ausfahrt aus einem Grundstück dann anwendbar, wenn der Fahrweg wie ein Feld- oder Waldweg aussieht oder nur über eine abgeschrägte Bordsteinkante mit einer gut ausgebauten Straße verbunden ist.
Ein „abgesenkter Bordstein“ gem. § 10 StVO liegt schon dann vor, wenn in dem vom Einmündungsverkehr zu überfahrenden Bereich ein im Vergleich zum Fußgängerbereich erkennbar niederer Bordstein vorhanden ist (LG Paderborn, Urt. v. 22.08.2002 – 1 S 91/02).
Ein Privatweg ist dann keine Grundstücksausfahrt, wenn er als Zufahrt zu mehreren Wohngrundstücken von jedermann benutzt werden kann und damit der Allgemeinheit zugänglich ist.
Im Zweifel, Straßeneinmündung oder Grundstücksausfahrt, müssen die Beteiligten von der für sie ungünstigsten Annahme ausgehen (OLG Koblenz, Beschl. v. 04.04.1975 – 1 Ws (a) 199/75, VRS 49, 449).
Begrifflich ist ein sogenannter „anderer Straßenteil“ ein Teil der Straße, der zwar öffentlicher Verkehrsgrund ist, aber grundsätzlich nicht dem fließenden Durchgangsverkehr dient. Die Unterscheidungsmerkmale müssen auch hier wieder im Wesentlichen äußerlich für jedermann erkennbar sein (KG, Urt. v. 30.09.1982 – 12 U 1327/82, VerkMitt 1983, 53).
Ein Bahnkörper, auch Straßenbahnkörper, ist ein anderer Straßenteil, wenn er nicht dem fließenden Verkehr dient.
Der Straßenbahnfahrer muss am Ende dieses Gleiskörpers und beim Einreihen in den öffentlichen Verkehrsraum die Sorgfaltspflichten des § 10 StVO beachten; er hat kein Vorrecht nach § 2 Abs. 3 StVO; Gleiches gilt für Wendeschleife.
Gehwege sind dann andere Straßenteile, wenn auf ihnen gehalten oder geparkt wurde, unabhängig davon, ob dieses erlaubt oder verkehrswidrig geschah (BayObLG, Beschl. v. 26.06.1986 – RReg 1 St 80/86, VRS 71, 304 = VerkMitt 1986, 85) oder ob auf ihnen ein beschränkter Fahrzeugverkehr zugelassen war (BayObLG, Beschl. v. 26.06.1986 – RReg 1 St 80/86, VRS 71, 304 = VerkMitt 1986, 85).
Der aus einem Grundstück Ausfahrende muss damit rechnen, dass ein bevorrechtigter Fahrer an diesem Grundstück vorbeifährt, aber nach 10–15 m anhält und zurücksetzt, um einzuparken (KG, Beschl. v. 05.01.1981 – 3 Ws (B) 370/80, VRS 60, 382).
Nach dem zum Wenden völligen Zurücksetzen in eine Grundstückseinfahrt liegt Einfahren aus einem Grundstück vor (OLG Koblenz, Beschl. v. 22.01.1986 – 1 Ss 18/86, DAR 1986, 155).
Die Zufahrt zu mehreren neben der Straße gelegenen Grundstücken ist keine selbständige Straße, wenn nach den auch hier relevanten äußerlich erkennbaren Umständen lediglich eine Anschließung der Grundstücke an den öffentlichen Verkehr vorliegt. Es gelten hier nicht die Vorfahrtsregeln, sondern die des Einfahrens in einen anderen Straßenteil (BayObLG, Beschl. v. 27.05.1983 – 1 ObOWi 55/83, VRS 65, 223).
Beim Einfahren von einem Parkstreifen auf die Fahrbahn muss auch auf sich von rückwärts nähernde Fahrzeuge geachtet werden, diese sind bevorrechtigt. Innerhalb von Parkplätzen sind die gekennzeichneten Parkbuchten keine anderen Straßenteile, hier gilt nicht § 10 StVO, sondern § 1 Abs. 2 StVO. § 10 StVO kommt jedoch im Rahmen des § 1 Abs. 2 StVO zur indirekten Anwendung.
Sind diese Fahrstreifen, beispielsweise bei Großparkplätzen, als selbständige Einbahnstraßen und gar mit Straßennamen bezeichnet, werden sie darüber hinaus vorzugsweise zur Zu- und Abfahrt gewählt, sind sie dem fließenden Verkehr zuzuordnen. Es gilt dann, hier zwischen Benutzung von Parkflächen und Parkstraßen zu trennen (§ 10 StVO).
Das Einfahren aus einem Parkbereich auf einen Mittelstreifen ist erst dann abgeschlossen, wenn sich der Einfahrende endgültig in den fließenden Verkehr eingeordnet hat und jede Einflussnahme des Anfahrvorgangs auf das weitere Verkehrsgeschehen ausgeschlossen ist.
Auf eine konkrete Fahrstrecke zwischen Anfahren und Kollision kommt es nicht zwingend entscheidend an (KG, Beschl. v. 29.12.2006 – 12 U 94/06).Seitenstreifen neben der Fahrbahn links und rechts, Parkstreifen, Parkbuchten und Parkplätze neben der Fahrbahn (OLG Hamm, Urt. v. 25.04.1977 – 3 U 2/77, VersR 1978, 261) gehören zwar zur Straße im verkehrsrechtlichen Sinn, aber nicht zum durchgehenden Verkehr.
Damit sind die Regeln des Ein- und Ausfahrens zu beachten, wenn von dort in den fließenden Verkehr eingefahren wird (KG, Beschl. v. 04.01.2006 – 12 U 202/05, DAR 2006, 454 = NZV 2006, 369).
In einem Parkhaus oder auf einem Parkplatz hat derjenige Vorrang, der auf der durchgehenden Straße fährt, gegenüber denen, die aus einer Parkbucht ausfahren, die Anwendung von § 10 StVO ließ das KG (Urt. v. 26.09.1983 – 22 U 5116/82, VerkMitt 1984, 32) offen.
Verkehrsberuhigte Zonen sind durch Zeichen 325 und 326 ausgeschildert und Verkehrsbereiche mit eigenen Verkehrsregeln gem. § 42 Abs. 4a StVO.Sie werden jedoch gleichgestellt mit Grundstücken und „anderen Straßenteilen“, Vorfahrt beim Ausfahren begründen sie nicht.
Verstöße gegen das Ein- und Anfahren sind nach § 49 Abs. 1 Nr. 10 StVO ordnungswidrig. § 10 Abs. 1 StVO setzt eine konkrete Gefährdung eines anderen voraus. Kommt zur Gefährdung noch eine Schädigung, steht § 1 Abs. 2 StVO mit § 10 StVO in Tateinheit.
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Quelle: Rechtsanwalt Markus Gülpen - Auszug aus Lexikon des Straßenverkehrsrechts, hrsg. von Wolfgang Ferner vom 10.09.08
Erstellt von Rechtsanwalt Markus Gülpen