Koalitionsverhandlungen im Arbeits- und Sozialrecht: Die Auswirkungen der Sondierungsergebnisse in der Praxis

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Die Koalitionsverhandlungen 2021 schreiten voran. Aus den Arbeitsgruppen dringt kaum etwas an die Öffentlichkeit; das vereinbarte Stillschweigen funktioniert. In den Medien dominieren deshalb Mutmaßungen und Spekulationen über den Stand der Verhand­lungen und etwaige Zwischenergebnisse.

Entsprechendes gilt für Überlegungen, welche der Parteien das jeweilige Ministerium für sich beansprucht und welche Vertreter als ministrabel gelten. An diesen Spekulationen soll sich hier nicht beteiligt werden. Interessanter ist stattdessen, sich anzuschauen, welche Auswirkungen die bereits vereinbarten Vorfestlegungen in der Praxis haben werden.

I. Organisation der Verhandlungen

Zunächst aber noch ein Wort zur Organisation der Verhandlungen, die am 22.10.2021 begonnen haben und seither von den Gesprächen in den Arbeitsgruppen beherrscht werden. Das Arbeitsrecht und das Sozialrecht werden in den Arbeitsgruppen mit der Nr. 10 (Arbeit, Weiterbildung, Qualifizierung) und der Nr. 9 (Sozialstaat, Grundsicherung, Rente) behandelt, in denen jeweils drei (Nr. 10) bzw. fünf Parteivertreter (Nr. 9) aktiv sind.

Die personelle Zusammensetzung beider Arbeitsgruppen hat sich leicht verändert. Als Chefverhandler agieren aber noch immer für die Arbeitsgruppe Nr. 9 Dagmar Schmidt (SPD), Sven Lehmann (Bündnis 90/Die Grünen) und Johannes Vogel (FDP) und für die Arbeitsgruppe Nr. 10 Hubertus Heil (SPD), Katharina Dröge (Bündnis 90/Die Grünen) und noch einmal Johannes Vogel (FDP)

Die Vertreter der Parteien aller Arbeitsgruppen sind inzwischen hier bei Wikipedia im Detail aufgelistet.

Feststeht seit Anfang dieser Woche auch, dass ein Sonderparteitag der SPD über den Koalitionsvertrag entscheiden wird, der am Samstag, den 04.12.2021 stattfinden wird.

II. Bereits vereinbarte Festlegungen

Unter den im Sondierungspapier bereits vereinbarten Festlegungen zum Arbeits- und Sozialrecht stechen fünf Themenbereiche hervor:

1.     Mindestlohn

Im Mittelpunkt steht dabei der gesetzliche Mindestlohn, dessen Höhe sehr konkret benannt wird: Er soll auf 12,00 € pro Stunde steigen, und zwar „in einer einmaligen Anpassung“ und das bereits „im ersten Jahr“.

Die Anhebung auf 12,00 € bedeutet zunächst, dass der Gesetzgeber im Verlauf des Jahres 2022 – so ist die Ankündigung „im ersten Jahr“ wohl zu verstehen – die bereits bis in das Jahr 2022 vereinbarten Erhöhungsschritte ergänzen wird. Derzeit steht der Mindestlohn (seit Juli 2021) bei 9,60 € pro Stunde, er wird zum 01.01.2022 auf 9,82 € und ab dem 01.07.2022 auf 10,45 € steigen. Es ist davon auszugehen, dass diese Erhöhungsschritte beibehalten werden und die sich daran anschließenden 12,00 € am 01.01.2023 in Kraft treten werden.

Profitieren von dieser Anhebung werden – wie in einer jüngst veröffentlichen Studie die Mannheimer Ökonomen Tom Krebs und Moritz Drechsel-Grau für die gewerk­schaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung ermittelt haben – rund acht Millionen Beschäftigte, vor allem Minijobber, aber auch sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Bereich des Einzelhandels, des Hotel- und Gaststättengewerbes und der Landwirtschaft. Zudem dürfte die Anhebung auf die Arbeitsentgelte ausstrahlen, die gegenwärtig leicht über 12,00 € liegen und zu deren Erhöhung führen.

Zu finden ist die Studie hinter folgendem Link auf boeckler.de.

Seitens der Arbeitgeber wird – nicht verwunderlich – die Erhöhung als „brandgefährlich“ für die Arbeitsplätze von Niedrigverdienern bezeichnet. Zudem wird das Vorhaben als „schwerer Eingriff“ in die Tarifautonomie beklagt, so zum Beispiel bei t-online.de.

Tatsächlich bewegen sich die 12,00 € oberhalb der unteren Lohngruppen nicht weniger Tarifverträge, was aber ein nicht gerade gutes Licht auf die Lohnpolitik der Gewerkschaften wirft.

2. Mini-Jobs

Einen zweiten Schwerpunkt bilden die Vereinbarungen zu den geringfügig Beschäftigten, also den Arbeitnehmern, die monatlich im Regelfall nicht mehr als 450 € verdienen und für die Sonderregelungen im Sozialversicherungsrecht (sie zahlen im Regelfall nur Beiträge zur Rentenversicherung) gelten.  Für die Arbeitnehmergruppe soll die sog. Mini-Job-Grenze von 450 auf 520 € erhöht werden.

Diese „Vorfestlegung“ bedeutet zum einen, dass die geringfügigen Beschäfti­gungs­verhältnisse als solche erhalten bleiben. Alle Reformvorschläge, die zwischen­zeitlich zu diesen Beschäftigungsverhältnissen vorgelegt wurden bis hin zu der immer wieder aufkommenden Forderung nach ihrer Abschaffung (bis auf wenige klar definierte Ausnahmen beispielsweise im Bereich der Schüler/Studierenden oder der Rentner) sind damit Vergangenheit.

Zudem soll sich die Minijob-Grenze an einer Wochenarbeitszeit von zehn Stun­den zu Mindestlohn­bedingungen orientieren. Mit der weiteren Erhöhung des Mindestlohns wird dann auch die Minijob-Grenze über den Schwellenwert von 520 € hinaus ansteigen und deren Attraktivität wachsen lassen.

Dies ist schon deshalb verwunderlich, weil Arbeitsmarktforscher davon ausgehen, dass geringfügige Beschäftigung sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze vor allem in kleinen Betrieben häufig verdrängt: s. https://doku.iab.de/kurzber/2012/kb2412.pdf.

Zudem sprachen sich bislang sowohl SPD als auch Bündnis 90/Die Grünen für eine mittelfristige Abschaffung dieser Beschäftigungsform aus. Künftig soll diese aber nicht nur erhalten bleiben, sondern durch die automatische Dynamisierung der Entgeltgrenzen noch attraktiver werden. Die in diesem Zusammenhang im Papier getätigte Ankündigung, man werde verhindern, „dass Minijobs als Ersatz für reguläre Arbeitsverhältnisse missbraucht oder zur Teilzeitfalle insbesondere für Frauen werden“, hat wohl nur Beschwichtigungscharakter. Ein derartiges Vorhaben ist bislang nicht gelungen und wird in dem neuen System wohl kaum gelingen können.

Insoweit hat sich die FDP, die seit langem eine Anhebung der Entgeltgrenze fordert, durchgesetzt.

3. Flexibilisierung der Arbeitszeit

Darüber hinaus finden sich im Sondierungspapier konkrete Absichtserklärungen zur Flexibilisierung der Arbeitszeit. So sollen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in einer „befristeten Regelung mit Evaluationsklausel“ die Möglichkeit bekommen, in Tarifverträgen „unter bestimmten Voraussetzungen und in einzuhaltenden Fristen“ Arbeitszeit flexibler gestalten zu können. Zudem will man „Experimentierräume“ erlauben, also die Möglichkeit, per Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung „von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit“ abzuweichen.

Im Ergebnis läuft dieses Vorhaben auf das Aufweichen des Arbeitszeitgesetzes hinaus. Was auf den ersten Blick wie die Umsetzung einer FDP-Forderung aussieht – tatsächlich hatte die FDP-Fraktion 2018 einen Entwurf für ein „Gesetz zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes“ (Drucksache 19/1174 vom13.03.2018) vorgelegt –, entpuppt sich bei näherem Hinsehen nur als das Wiederaufwärmen eines Vorhabens, das sich die Große Koalition (GroKo) in ihrem Koalitionsvertrag von 2017 vorgenommen hatte, aber nicht mehr umzusetzen wusste.

Schon damals hieß es: „Wir werden über eine Tariföffnungsklausel im Arbeitszeitgesetz Experimentierräume für tarifgebundene Unternehmen schaffen, um eine Öffnung für mehr selbstbestimmte Arbeitszeit der Arbeitnehmer und mehr betriebliche Flexibilität in der zunehmend digitalen Arbeitswelt zu erproben. Auf Grundlage von diesen Tarifverträgen kann dann mittels Betriebsvereinbarungen insbesondere die Höchstarbeitszeit wöchentlich flexibler geregelt werden.“

Im Unterschied zur Vereinbarung von 2017 entfällt mit der Formulierung „oder durch Betriebsvereinbarung“ allerdings die Anbindung an einen Tarifvertrag. Es würde genügen, dass die Arbeitszeitregelungen in einer Betriebsvereinbarung getroffen werden und damit zu einer erheblichen Ausweitung von Flexibilisierungsklauseln führen.

Es wird abzuwarten sein, ob dieser Inhalt bis zur endgültigen Formulierung eines Koalitions­vertrages beibehalten wird. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, hätte die FDP auch insoweit ein wichtiges Anliegen, das sie schon seit Jahren vorantreibt, in die neue Legislaturperiode eingebracht.

4. Gesetzliche Rentenversicherung

Im Bereich des Sozialrechts nehmen die Vereinbarungen zur gesetzlichen Rentenversicherung einen besonderen Stellenwert ein. Insoweit will man das derzeitige „Mindest­rentenniveau von 48 Prozent sichern“. Zudem werden Rentenkürzungen und eine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters ausge­schlossen. Mit diesen Formulierungen werden keine Vorhaben angekündigt, sondern nur rentenpolitische Interventionen ausgeschlossen. Immerhin aber wird der Status quo damit für die Dauer der Legislaturperiode festgeschrieben. 

Mit der Festschreibung stellt sich die Frage nach der Finanzierung dieses Niveaus. Und insoweit ist tatsächlich etwas Neues, und zwar „eine teilweise Kapitaldeckung“ vorgesehen. Dazu soll bereits 2022 ein „Kapitalstock“ von 10 Milliarden € aus Steuermitteln bereitgestellt werden. Zudem will man der Deutschen Renten­versicherung ermöglichen, „ihre Reserven“ am Kapitalmarkt anzulegen.

Einwände gegen einen derartigen Einstieg in eine kapitalgedeckte Rente, kategorisiert als „Aktienrente“, werden bereits von politischer Seite erhoben, s. dazu folgenden Beitrag bei faz.net.

Sicher ist, dass mit diesem Vorhaben die Tür zur Kaitaldeckung in der gesetzlichen Rentenversicherung aufgestoßen wurde.

5. Bürgergeld statt Hartz IV

Das letzte Vorhaben, das in der öffentlichen Diskussion außergewöhnlich lebhaft wahr­­ge­nommen und kommentiert wurde, ist der Plan, die Regelungen zur sozialrechtlichen Grundsicherung (Hartz IV) durch „ein Bürgergeld“ zu ersetzen.

Was das konkret bedeutet, wird jedoch (noch) nicht erläutert. Das Sondierungspapier spricht lediglich davon, die Leistung solle „die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein“. An „Mitwirkungspflichten“ will man dabei festhalten und „prüfen, wie wir hier entbürokratisieren können“. Zuverdienstmöglichkeiten sollen verbessert werden, „mit dem Ziel, Anreize für Erwerbstätigkeit zu erhöhen“.

Kommt jetzt also ein völlig neues Bürgergeld, ein Konzept aus der Feder der SPD, und ist Hartz IV damit Geschichte? Die gelungenste Auseinandersetzung mit diesen Ankündigungen liefert Florian Diekmann in Spiegel-Online.

Es spricht auch viel dafür, dass sein Fazit das Ergebnis der Verhandlungen vorwegnimmt: „Es bleibt abzuwarten, wie die Ampelparteien die vagen Wörter des Sondierungspapiers in den Koalitionsverhandlungen konkretisieren werden. Denkbar ist, dass es bei einem Bürgergeld mehr pauschale Geldleistungen statt der bislang mitunter extrem kleinteiligen Berechnungen geben wird, mehr Vertrauen statt strikter Kontrolle, einfachere Onlineanträge statt dicker Formulare mit bedrohlichem Juristendeutsch … Aber abgeschafft wäre das bisherige System der Grundsicherung mit einem solchen Bürgergeld sicher nicht.“

RA Prof. Dr. Joachim Weyand

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