Koalitionsverhandlungen im Arbeits- und Sozialrecht
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Koalitionsverhandlungen im Arbeits- und Sozialrecht
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SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP haben nach knapp fünfwöchigen Koalitionsverhandlungen an diesem Mittwoch (24.11.2021) ihre Vereinbarung mit dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Wortlaut des Vertrags findet sich hier:
https://www.tagesschau.de/koalitionsvertrag-147.pdf
Der sich über 177 Seiten erstreckende Text ist nicht besonders lesefreundlich, obwohl nach der Erklärung der Autorinnen und Autoren über einige Sätze „oft stundenlang diskutiert“ worden sein soll; einen Nobelpreis für Literatur wird er jedenfalls nicht erhalten. Das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) spricht in einem Kommentar etwas despektierlich von „viel Kontinuität und ein paar Luftschlössern“; Letzteres bezieht sich vor allem auf die Klimapolitik.
Aber auch in den Themenfeldern „Arbeit“ und „Soziales“, die auf lediglich 15 Seiten des Vertrags behandelt werden (S. 65 ff), finden sich zahlreiche vage Ankündigungen. Immerhin sind neben Konkretisierungen zu den bereits im Sondierungspapier niedergeschriebenen Absichtserklärungen (siehe dazu: https://www.deubner-recht.de/themen/koalitionsverhandlungen-2021/) auch einige neue Pläne zu Homeoffice, Plattformökonomie, Tarifautonomie, Weiterbildung, Versicherungsschutz für Selbstständige etc. zu finden. Die umstrittensten Vorhaben sollen uns im Folgenden beschäftigen.
Noch nicht abschließend entschieden ist das Personaltableau, also die Besetzung der Ministerien. Zwar ist, und zwar am Ende des Koalitionsvertrags (S. 176/177), deren Zuschnitt und Verteilung bereits geklärt. Die SPD wird danach neben dem Kanzleramt und dem Kanzleramtsminister sechs Ministerien, darunter das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) erhalten (daneben die Ministerien für Inneres und Heimat, Verteidigung, Gesundheit, Bauen und Wohnen, Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung). Bündnis 90/Die Grünen kann die Leitung von fünf Ministerien (Auswärtiges Amt Wirtschaft und Klimaschutz, Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz sowie Ernährung und Landwirtschaft) und die FDP die von vier (Finanzen, Justiz, Verkehr und Digitales sowie Bildung und Forschung) besetzen.
Die Namen, die diesen Ministerien zugeordnet werden können, sind noch nicht alle bekannt. Bislang haben lediglich die FDP und Bündnis 90/Die Grünen ihre Ministerinnen und Minister benannt. Bei Bündnis 90/Die Grünen zog sich der parteiinterne Streit darüber bis zum Freitagvormittag (26.11.) hin. Die SPD will ihre Auswahl erst nach ihrer Zustimmung zum Koalitionsvertrag Anfang Dezember bekanntgeben. Für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) ist der bisherige Minister Hubertus Heil aber bereits „gesetzt“.
Die nächsten Schritte: Was die Parteiführungen ausgehandelt haben, muss noch bestätigt werden. SPD und FDP haben dafür Parteitage am ersten Wochenende im Dezember (04./05.12.2021) geplant. Bündnis 90/Die Grünen wird die Mitglieder über den Koalitionsvertrag und das Personaltableau entscheiden lassen; die Urabstimmung soll an diesem Freitag (26.11.2021) beginnen und zehn Tage dauern.
Wenn alle zugestimmt haben, kann Olaf Scholz zum Kanzler gewählt werden. Der Termin soll in der Woche ab dem 6.12. liegen. Offenbar wird angestrebt, die Wahl spätestens auf Mittwoch, den 8.12. zu legen, da schon zwei Tage später internationale Verpflichtungen für den neuen Kanzler und die neue Außenministerin anstehen.
Im Arbeitsrecht sind drei Themenbereiche – gesetzlicher Mindestlohn, geringfügige Beschäftigung und Befristung von Arbeitsverträgen – von besonderer Brisanz.
Die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns, eine zentrale Wahlkampfforderung der SPD, nahm bereits im Sondierungspapier eine prominente Stellung ein. Der Wortlaut im Koalitionsvertrag geht über die darin niedergeschriebenen Absichtserklärungen kaum hinaus. Der Mindestlohn wird danach in 2022 in einem Schritt auf 12,00 € pro Stunde angehoben, so dass ab dem Januar 2023 mit einem Mindestlohn in dieser Höhe zu rechnen ist (zu dem zu erwartenden Umsetzungsverfahren und den Auswirkungen siehe auch:
Die Entscheidung über weitere Erhöhungsschritte soll dann – wie bislang – der unabhängigen Mindestlohnkommission obliegen.
Zudem soll – das ist neu im Koalitionsvertrag – der Vorschlag der EU-Kommission für eine Richtlinie über angemessene armutsfeste Mindestlöhne zur Stärkung des Tarifsystems in den Mitgliedstaaten „unterstützt“ werden.
Ein zweiter Gegenstandsbereich, zu dem der Wortlaut im Koalitionsvertrag dem im Sondierungspapier entspricht, ist die geringfügige Beschäftigung, also die Beschäftigung von Arbeitnehmern, deren Arbeitsentgelt im Regelfall die Entgeltgrenze von 450 € im Monat nicht überschreitet und die deshalb von den Pflichtversicherungsvorschriften des Sozialgesetzbuch III weitgehend freigestellt sind. Diesem Beschäftigungsmodell wird noch einmal nicht nur eine Bestandsgarantie erteilt, vielmehr soll dieses noch attraktiver werden, indem die Entgeltgrenze – in Anlehnung an die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns – auf 520 € monatlich angehoben wird (S. 70). Dieses Konzept trägt die Handschrift der FDP, die damit ein langgehegtes Vorhaben umsetzen konnte.
Die angeschlossene Erklärung, man werde „verhindern, dass Minijobs als Ersatz für reguläre Arbeitsverhältnisse missbraucht oder zur Teilzeitfalle insbesondere für Frauen werden“, benennt die Bedenken, die gegen diese Beschäftigungsvariante immer wieder vorgebracht werden. Diese Befürchtungen bildeten sowohl für SPD als auch Bündnis 90/Die Grünen den Hintergrund für die Absicht, die geringfügige Beschäftigung deutlich einzuschränken. Und sie werden in einer soeben veröffentlichten Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt (IAB), dem Think Tank der Bundesagentur für Arbeit, noch einmal bestätigt: https://www.iab-forum.de/minijobs-in-kleinbetrieben-sozialversicherungspflichtige-beschaeftigung-wird-verdraengt/
Die etwas vollmundige Erklärung, man „werde“ den Missbrauch verhindern, hat deshalb eher Beschwichtigungscharakter. Entsprechendes gilt für die Ankündigung, man wolle die Einhaltung des Arbeitsrechts bei Mini-Jobs „stärker“ kontrollieren.
Ein drittes Konfliktfeld bilden die befristeten Arbeitsverträge, die sich nach wie vor in hoher Zahl anzutreffen sind und die deshalb – folgt man den Forderungen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen – deutlich begrenzt werden sollten. Die jetzt formulierten Absichten (S. 70) fallen jedoch merklich dürftiger, als dies noch im letzten Koalitionsvertrag der GroKo der Fall war; in diesem – S. 51 – waren Beschränkungen detailliert festgeschrieben:
Dieses Mal bleibt die sachgrundlose Befristung, der eigentliche Zankapfel in der Praxis, in der Privatwirtschaft gänzlich unberührt; sie soll lediglich beim Bund als Arbeitgeber „Schritt für Schritt“ reduziert werden. Daneben soll die Dauer befristeter Arbeitsverträge mit Sachgrund bei demselben Arbeitgeber auf sechs Jahre beschränkt werden. Schließlich soll im öffentlichen Dienst die Möglichkeit der Haushaltsbefristung abgeschafft werden.
Diese Ergebnisse bleiben weit hinter den gesetzten Erwartungen zurück. Auch insoweit ist die Handschrift der FDP unverkennbar.
Im Sozialrecht dominieren die Themen Bürgergeld und Kindergrundsicherung, zu denen sich erläuternde Absichtserklärungen im Koalitionsvertrag finden. Die Ankündigungen im Bereich der Rentenpolitik entsprechen denen im Sondierungspapier, so dass dazu auf die Erläuterungen im Newsletter vom 05.11.2021 verwiesen werden kann:
Die Wahlkampfversprechen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ließen einen Paradigmenwechsel für den Bereich der Hartz IV-Regelungen erwarten. Herausgekommen ist ein Bürgergeld, das an Stelle des Arbeitslosengeldes II treten soll. Handelt es sich um mehr als ein neues Etikett?
Immerhin finden sich im Vertrag selten ausführliche Absichtserklärungen (S. 75 ff.). Danach soll in den ersten beiden Jahren des Bürgergeldbezuges die Leistung ohne Anrechnung des Vermögens und die Prüfung der Angemessenheit der Wohnung erbracht werden. Zudem ist eine Anhebung des Schonvermögens angekündigt, ohne dass aber Zahlen genannt werden. An den Mitwirkungspflichten der Bezieher und den damit möglichen Sanktionen soll festgehalten, die Sanktionen aber sollen für ein Jahr ausgesetzt werden (Moratorium). Zudem sollen – ganz im Sinne der FDP – die Zuverdienstmöglichkeiten verbessert und die Anrechnung von Einkünften aus Schüler- und Studierendenjobs in den Bedarfsgemeinschaften vollständig abgeschafft werden.
Enttäuschung hat bei den Sozialverbänden die Tatsache ausgelöst, dass über die Anhebung des Regelsatzes – er beträgt ab Januar 2022 449 € monatlich – im Vertragstext nichts zu finden ist. Die in einigen Medien kolportierte Nachricht, die Ampel habe sich außerhalb des Vertrags auf eine Anhebung um 31,00 € auf dann 480 € geeinigt, ist reine Spekulation.
Als echten Fortschritt im sozialstaatlichen Sinne lässt sich die vorgesehene Kindergrundsicherung verstehen, mit der die sich in den letzten Jahren ausbreitende Kinderarmut angegangen werden soll (S. 100 ff.).
Demnach sollen alle bisherigen finanziellen Unterstützungen wie Kindergeld, Leistungen aus SGB II/XII für Kinder, Teile des Bildungs- und Teilhabepakets sowie der Kinderzuschlag gebündelt und den bedürftigen Kindern unmittelbar zugewiesen werden. Mit den Leistungen soll ein „neu zu definierendes soziokulturelles Existenzminimum“ gesichert werden. Die Grundsicherung soll sich aus einem einkommensunabhängigen Garantiebetrag, der für alle Kinder und Jugendlichen gleich hoch ist, und einem vom Elterneinkommen abhängigen, gestaffelten Zusatzbetrag zusammensetzen.
Auf die konkrete Umsetzung dieses Vorhabens darf man gespannt sein.
RA Prof. Dr. Joachim Weyand
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