Der nächste Schritt ist geschafft: Seit vielen Jahren versucht die EU, die verschiedenen Rechtssysteme der Mitgliedsstaaten zu harmonisieren – auch im Familienrecht. Mit Brüssel IIb (als Nachfolge-VO zu Brüssel IIa) gibt es nun neue Regeln darüber, welche Gerichte bei internationalen Ehesachen und Kindschaftssachen zuständig sind.
Für die ab 01.08.2022 neu eingeleiteten Verfahren ist nunmehr die Brüssel IIb-VO maßgeblich. Sie gilt in allen Teilen als unmittelbar anzuwendendes Recht in den Mitgliedstaaten und bedarf keiner besonderen Umsetzung durch nationale Gesetzgebung.
Soweit zu ihrer Durchführung nationale Rechtssetzung durch die Mitgliedstaaten notwendig geworden ist, ist für Deutschland insbesondere mit Blick auf das IntFamRVG das deutsche Durchführungsgesetz zur Brüssel IIb-VO zu beachten (kurz: Brüssel IIb-VO-DG).
Anwendungsbereiche der Brüssel-IIb Verordnung
Die Brüssel-IIb VO hat folgende Hauptregelungsinhalte und Anwendungsbereiche:
- Regelung der gerichtlichen bzw. behördlichen Zuständigkeit in Ehesachen,
- Regelung der gerichtlichen bzw. behördlichen Zuständigkeit und Zusammenarbeit in Bezug auf die elterliche Verantwortung,
- Regelungen in Bezug auf internationale Kindesentführung,
- Regelungen in Bezug auf die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen bzw. behördlichen Entscheidungen aus den Unionsmitgliedstaaten,
- Regelungen über das Verhältnis zu bestehenden bi- und multilateralen Verträgen der Unionsmitgliedstaaten.
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Zwölf Fallbeispiele zur neuen Brüssel-IIb Verordnung
Auf dieser Seite gehen wir direkt in die Praxis! Nachfolgende sehen Sie typische Fallkonstellationen, bei denen nach der Brüssel IIb VO Zuständigkeiten geregelt werden.
Fallbeispiel 1
Die deutsche F und der italienische M leben getrennt. Die Ehe wurde in Deutschland gelebt. Die deutsche Zuständigkeit folgt aus Art. 3 lit. a Nr. i Brüssel IIb-VO.
Fallbeispiel 2
Die türkischen Eheleute F und M leben in Deutschland. Sie trennen sich und bleiben weiterhin in Deutschland. Die deutsche Zuständigkeit folgt aus Art. 3 lit. a Nr. i Brüssel IIb-VO. Die Zugehörigkeit zu einem Drittstaat bleibt unerheblich, ebenso die Frage, ob die Türkei eine Heimatstaatenzugehörigkeit gewährt.
Fallbeispiel 3
M, getrenntlebender italienischer Staatsangehöriger aus Beispiel 1, zieht dauerhaft nach Italien zurück. F bleibt im Inland. Die deutsche Zuständigkeit folgt aus Art. 3 lit. a Nr. ii Brüssel IIb-VO.
Konkurrierend, aber nicht im Sinne einer ausschließlichen Zuständigkeit, können daneben nach Art. 3 lit. a Nr. iii-vi Brüssel IIb-VO auch italienische Gerichte zuständig sein/werden.
Fallbeispiel 4
M, getrenntlebender französischer Ehemann, kehrt aus Deutschland, wo die Ehe gelebt wurde, nach Frankreich zurück. Seine französische Frau F nimmt dauerhaften Aufenthalt in Österreich. Deutsche Gerichte haben nach Art. 3 Brüssel IIb-VO keine Zuständigkeit mehr. Französische oder österreichische Gerichte können nach Art. 3 lit. a Nr. iii-vi Brüssel IIb-VO zuständig sein.
Fallbeispiel 5
F, deutsche Staatsangehörige, und der spanische M leben bis zu einem gewalttätigen Streit in Madrid. Sie verlässt das Land, kehrt dauerhaft nach Deutschland zurück und begehrt hier eine sofortige Scheidung. Deutsche Gerichte sind nach dem Katalog des Art. 3 lit. a Brüssel IIb-VO nicht zuständig.
Es besteht jedoch noch eine Zuständigkeit spanischer Gerichte nach Art. 3 lit. a Nr. ii Brüssel IIb-VO. Auch eine Restzuständigkeit deutscher Gerichte nach § 98 Abs. 1 FamFG ist nicht eröffnet, weil die spanische Zuständigkeit (vgl. Art. 6 Abs. 2, Art. 3 Brüssel IIb-VO) fortbesteht (Art. 6 Abs. 1 und 3 Brüssel IIb-VO) und einen Rückgriff auf die deutsche Zuständigkeit sperrt.
Fallbeispiel 6
Die deutsche F lebt mit ihrem französischen Ehemann M in der Schweiz. Nach einer endgültigen Trennung bleiben beide in der Schweiz. Eine Möglichkeit, nach Art. 3 Brüssel IIb-VO eine Scheidung durch ein deutsches Gericht zu beantragen, besteht für keinen der Ehegatten.
Für F ist der Rückgriff auf die Restzuständigkeit des § 98 Abs. 1 FamFG nach Art. 6 Abs. 2 Brüssel IIb-VO gesperrt, weil M die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt. Für M ist sie schon nicht eröffnet, weil er sich in einem Drittstaat aufhält (Art. 6 Abs. 3 Brüssel IIb-VO).
Fallbeispiel 7
Wie im vorangegangenen Fall, jedoch verzieht F dauerhaft nach Deutschland zurück, während M nach Frankreich zurückgeht. Art. 3 lit. a Nr. vi Brüssel IIb-VO öffnet keinen Weg zu den inländischen Gerichten, solange F nicht für die Zeitdauer von sechs Monaten vor Antragstellung in Deutschland einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hatte.
Streitig ist die Frage zum Beginn der maßgeblichen Wartefrist für den Antragsteller zur Anrufung des Gerichts seines Aufenthaltsstaates (erst mit der Begründung seines gewöhnlichen Aufenthalts im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts oder wenn bei Beginn der maßgeblichen Wartefrist zunächst nur ein schlichter Aufenthalt besteht und sich der Aufenthalt erst danach im Zeitraum bis zur Antragstellung zu einem gewöhnlichen Aufenthalt verfestigt hat).
Gleiches gilt für M in Frankreich. Eine Restzuständigkeit unter Rückgriff auf § 98 Abs. 1 FamFG kommt nicht in Betracht, weil Art. 6 Abs. 2 Brüssel IIb-VO es verhindert, dass M als Antragsgegner vor das Forum eines Mitgliedstaates gezogen wird, dessen Staatsangehörigkeit er nicht hat und in dem er keinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
Spiegelbildliches gilt für F in Frankreich. Allerdings könnten sowohl F als auch M die Scheidung vor den Gerichten des Mitgliedstaates des jeweils anderen Ehegatten sofort betreiben (Art. 3 lit. a Nr. iii Brüssel IIb-VO).
Fallbeispiel 8
Die Französin F lebt seit drei Monaten getrennt von ihrem jugoslawischen Ehemann M, der in den USA, wo die Ehe gelebt wurde, seinen gewöhnlichen Aufenthalt behielt, in Deutschland. Eine Zuständigkeit nach Art. 3 Brüssel IIb-VO ist nicht gegeben.
Die Zuständigkeit der deutschen Gerichte eröffnet in diesem Fall Art. 6 Abs. 3 Brüssel IIb-VO/§ 98 Abs. 1 Nr. 1 FamFG, da jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaates, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hat, die in diesem Staat geltenden Zuständigkeitsvorschriften wie ein Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaates (Inländer) gegenüber einem Antragsgegner geltend machen kann, der weder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat hat noch die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt.
Für Irland steht das "domicile" der Staatsangehörigkeit bei Anwendung der Vorschrift gleich (Art. 2 Abs. 3 Brüssel IIb-VO). Somit kann ein ausländischer Staatsangehöriger, dessen Ehegatte sich weder im Inland aufhält noch eine Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt, unmittelbar über § 98 Abs. 1 FamFG die Zuständigkeit deutscher Gerichte für eine Ehesache in Anspruch nehmen.
Fallbeispiel 9
Die deutsche F und der französische M leben in Australien. Nach der Trennung verbleiben beide dort. F will die Scheidung. In Deutschland ist keine Zuständigkeit eröffnet, da es sich um ein Verfahren gegen einen französischen Staatsangehörigen und damit um einen Angehörigen eines Mitgliedstaates handelt (Art. 6 Abs. 2 Brüssel IIb-VO) und keine der Alternativen von Art. 3-5 Brüssel IIb-VO vorliegt.
F muss also in Australien oder in Frankreich (Fall der Restzuständigkeit vor dem Forum des Antragsgegners, falls das nationale Recht ein solches eröffnet) seinen Antrag stellen. Es sind bei dieser Sachlage sogar Fälle denkbar, in denen Gemeinschaftsbürger unterschiedlicher Staatsangehörigkeit, die in einem Drittstaat leben, weder innerhalb noch außerhalb der EU geschieden werden können.
Ist die Zuständigkeit des Drittstaates eröffnet und kommt es dort zur Scheidung, können Probleme im Bereich der Anerkennung solcher Entscheidungen aus Drittstaaten in den jeweiligen Herkunftsländern der Ehegatten grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden.
Fallbeispiel 10
Im vorgenannten Fall wollen beide einvernehmlich die Scheidung bei einem europäischen Gericht einreichen, ohne jedoch den Wohnsitz nach hierher verlegen zu müssen. Eine Zuständigkeit nach Art. 3-5 Brüssel IIb-VO ist nicht eröffnet. Nach Art. 3 lit. a Nr. iv Brüssel IIb-VO hilft der gemeinsame Antrag nicht weiter, weil keiner der Ehegatten hier seinen Aufenthalt hat.
Bei jedem angerufenen europäischen Gericht greift die Sperre des Art. 6 Abs. 2 Brüssel IIb-VO. Auch eine Zuständigkeit für einen Gegenantrag nach Art. 4 Brüssel IIb-VO gibt es nicht, weil der entsprechende Initialantrag eines Ehegatten im anderen Land sich nicht aus einer Zuständigkeit nach Art. 3 Brüssel IIb- VO, sondern aus einer nationalen Restzuständigkeit ableitet.
Art. 4 Brüssel IIb-VO knüpft aber an der ausdrücklichen Zuständigkeitsvorschrift des Art. 3 Brüssel IIb-VO an. Die Eheleute sind daher auf das einseitige Verfahren im vorgenannten Fall beschränkt, was für den jeweiligen Antragsgegner jedoch mit dem Risiko der Dispositionsbefugnis des antragstellenden Ehegatten hinsichtlich des gestellten eigenen Antrags belastet ist.
Fallbeispiel 11
Ein deutsch-niederländisches Ehepaar lebt seit vielen Jahren in einem Drittstaat. Ihre Beziehung verschlechtert sich und die deutsche Ehefrau möchte sich vorzugsweise vor einem deutschen Gericht scheiden lassen.
In Deutschland oder einem anderen Mitgliedstaat hat sie keine Möglichkeit, dies zu beantragen. Eine Zuständigkeit ist für keinen der Ehegatten nach Art. 3-5 Brüssel IIb-VO eröffnet (kein gewöhnlicher Aufenthalt in einem Mitgliedstaat, keine gemeinsame Staatsangehörigkeit). In Betracht kommen nur die autonomen Zuständigkeitsvorschriften eines Mitgliedstaates.
In Deutschland sperrt Art. 6 Abs. 2 Brüssel IIb-VO aber ein Verfahren gegen den Ehemann. In den Niederlanden ist für die Ehefrau keine innerstaatliche Zuständigkeit eröffnet. Sie kann daher allein im Drittstaat mit den sich dadurch ergebenden Risiken für eine Anerkennung eines Urteils das Verfahren betreiben.
Fallbeispiel 12
Die deutsche F hat den Marokkaner M geheiratet und lebte während der Ehe in Marokko. Nach einer massiven Gewalttätigkeit kehrt sie nach Deutschland zurück und will hier sofort geschieden werden. Art. 3 Brüssel IIb-VO eröffnet keine Zuständigkeit deutscher Gerichte. Ob in Marokko eine Zuständigkeit erhalten geblieben ist, bleibt unbeachtlich.
Die deutsche Zuständigkeit eröffnet sich hier unmittelbar aus Art. 6 Abs. 1 Brüssel IIb-VO/§ 98 Abs. 1 FamFG, denn es reicht allein die deutsche Staatsangehörigkeit der F, nachdem für M keine Sperrwirkung nach Art. 6 Abs. 2 Brüssel IIb-VO bestehen kann.